Freitag, 17. April 2015

EuGH-Vorabentscheidung "Karoline Gruber" ist da - die Bindungswirkung ist weg!

Jüngst hat der EuGH das mit Spannung erwartete Urteil zur Bindungswirkung von UVP-Feststellungsbescheiden gefällt (Urteil vom 16.04.2014, C-570/13). Das Ergebnis ist nicht überraschend: Der EuGH verneint die Bindungswirkung von Feststellungsbescheiden gegenüber der betroffenen Öffentlichkeit, die am Feststellungsverfahren nicht beteiligt war. Außerdem hält der EuGH fest, dass ein gewerbebehördliches Betriebsanlagenverfahren den Anforderungen der UVP-RL nicht entpreche. Auch das ist (wenn man ein "gewöhnliches Betriebsanlagenverfahren" mit einer "richtigen UVP" vergleicht) wenig sensationell. Spannend wird aber nun sein, welche Konsequenzen die Rechtsprechung und Verwaltungspraxis in anhängigen Verfahren aus dem Judikat zieht und wie der Gesetzgeber reagieren wird.

Die Vorlagefragen beantwortet der EuGH wie folgt:
51      Nach alledem sind die Vorlagefragen dahin zu beantworten, dass Art. 11 der Richtlinie 2011/92 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen – wonach eine Verwaltungsentscheidung, mit der festgestellt wird, dass für ein Projekt keine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen ist, Bindungswirkung für Nachbarn hat, die vom Recht auf Erhebung einer Beschwerde gegen diese Entscheidung ausgeschlossen sind – entgegensteht, sofern diese Nachbarn, die zur „betroffenen Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie gehören, die Kriterien des nationalen Rechts in Bezug auf das „ausreichende Interesse“ oder die „Rechtsverletzung“ erfüllen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzung in der bei ihm anhängigen Rechtssache erfüllt ist. Ist dies der Fall, muss das vorlegende Gericht feststellen, dass eine Verwaltungsentscheidung, keine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, gegenüber diesen Nachbarn keine Bindungswirkung hat.“
 
Interessant sind in der Begründung vor allem folgende Randnummern:

42      Angesichts des Wortlauts dieser Bestimmung ist ersichtlich, dass die Personen, die unter den Begriff „Nachbar“ fallen, zur „betroffenen Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2011/92 gehören können. Diese „Nachbarn“ sind jedoch nur zur Erhebung einer Beschwerde gegen die Genehmigung zur Errichtung oder zum Betrieb einer Anlage berechtigt. Da sie im Verfahren zur Feststellung der Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung nicht Partei sind, können sie den UVP-Feststellungsbescheid auch nicht im Rahmen einer etwaigen Beschwerde gegen den Genehmigungsbescheid anfechten. Indem das UVP-G 2000 das Beschwerderecht gegen die Entscheidungen, mit denen festgestellt wird, ob die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung für ein Projekt erforderlich ist, auf die Projektwerber/Projektwerberinnen, die mitwirkenden Behörden, den Umweltanwalt und die Standortgemeinde beschränkt, nimmt es einer Vielzahl von Privatpersonen, insbesondere auch den „Nachbarn“, die möglicherweise die Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92 erfüllen, dieses Recht.

43      Dieser nahezu vollständige Ausschluss beschränkt die Tragweite des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92 und ist daher nicht mit der Richtlinie vereinbar.
 
44      Folglich darf eine auf der Grundlage einer solchen nationalen Regelung getroffene Verwaltungsentscheidung, keine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, einen zur „betroffenen Öffentlichkeit“ im Sinne der Richtlinie 2011/92 gehörenden Einzelnen, der die Kriterien des nationalen Rechts in Bezug auf ein „ausreichendes Interesse“ oder gegebenenfalls eine „Rechtsverletzung“ erfüllt, nicht daran hindern, diese Entscheidung im Rahmen eines gegen sie oder gegen einen späteren Genehmigungsbescheid eingelegten Rechtsbehelfs anzufechten.
[...]
47       Trotz des Wertungsspielraums, über den ein Mitgliedstaat gemäß Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2011/92 verfügt, wonach die Umweltverträglichkeitsprüfung im Rahmen der bestehenden Verfahren zur Genehmigung der Projekte oder, falls solche nicht bestehen, im Rahmen anderer den Zielen dieser Richtlinie entsprechender Verfahren durchgeführt werden kann, kann ein Verfahren wie das u. a. durch die §§74 Abs. 2 und 77 Abs. 1 der Gewerbeordnung geregelte nicht den Erfordernissen der Unionsregelung über die Umweltverträglichkeitsprüfung entsprechen.

48      Die Bestimmungen der Gewerbeordnung sehen offenkundig zugunsten der Nachbarn die Möglichkeit vor, im Verfahren zur Genehmigung der Errichtung einer gewerblichen Betriebsanlage Einwendungen zu erheben, wenn durch die Verwirklichung der Anlage ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihr Eigentum gefährdet würde oder sie belästigt würden.

49      Ein solches Verfahren dient jedoch in erster Linie dem Schutz des privaten Interesses des Einzelnen und verfolgt keine spezifischen Umweltziele im Interesse der Gesellschaft.

50      Zwar kann die Umweltverträglichkeitsprüfung im Rahmen eines anderen Verwaltungsverfahrens durchgeführt werden, doch müssen, wie die Generalanwältin in den Nrn. 57 und 58 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, in diesem Verfahren alle Anforderungen der Art. 5 bis 10 der Richtlinie 2011/92 erfüllt werden, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Jedenfalls müssen die Mitglieder der „betroffenen Öffentlichkeit“, die die Kriterien des nationalen Rechts in Bezug auf das „ausreichende Interesse“ oder gegebenenfalls die „Rechtsverletzung“ erfüllen, die Möglichkeit haben, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einzulegen, keine Umweltverträglichkeitsprüfung im Rahmen eines solchen Verfahrens durchzuführen.

Die Konsequenz aus dieser Vorabentscheidung des EuGH für den Ausgangsfall, einen beim VwGH anhängigen betriebsanlagenrechtlichen Klagenfurter Anlagengenehmigungsfall (Revisionswerberin war eine Nachbarin: Karoline Gruber), wird wohl sein, dass der VwGH die angefochtene Genehmigung der Gewerbebehörde aufhebt. 
Interessant wird aber sein, welchen von zumindest zwei möglichen weiteren Wegen für die Prüfung der Argumente der Nachbarin der VwGH aufzeigen wird:

a) es könnte der belangten Behörde (bzw nunmehr dem zuständigen Verwaltungsgericht [Kärnten]) die Prüfung der UVP-Pflicht - ohne Bindung an den vorliegenden Feststellungsbescheid der LReg - aufgetragen werden;

b) man könnte aber auch argumentieren, dass die Gewerbebehörde zur Prüfung der UVP-Pflicht gar nicht zuständig ist, weil diese Kompetenz nur der UVP-Behörde zukommt. Dann müsste zunächst eine Anfechtung des (für die Nachbarin nun nicht mehr bindenden) UVP-Feststellungsbescheids der Kärntner Landesregierung erfolgen. Karoline Gruber könnte diesen Bescheid - wie eine übergangene Partei ohne Rücksicht auf die schon abgelaufene Beschwerdefrist - nach § 3 Abs 7 und Abs 7a UVP-G beim Bundesverwaltungsgericht bekämpfen. Ergibt die Prüfung schlussendlich eine UVP-Pflicht, wäre die von der Gewerbebehörde erteilte Genehmigung für nichtig zu erklären (§ 3 Abs 6 UVP-G; Sperrwirkung; Frist: 3 Jahre).

Meine Sympathie gilt Variante a). Dem steht die Aussage des EuGH, dass  ein Verfahren wie das u. a. durch die §§ 74 Abs. 2 und 77 Abs. 1 der Gewerbeordnung geregelte nicht den Erfordernissen der Unionsregelung über die Umweltverträglichkeitsprüfung entspreche, nicht entgegen. Denn dass das gewerbebehördliche Verfahren, das bisher in dieser Sache durchgeführt wurde, kein UVP-Verfahren war, wie der EuGH ausführt, hat ja auch niemand behauptet.

Im Begründungsduktus des EuGH folgt diese Aussage auf jene über den Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Ausgestaltung der Rechte der betroffenen Öffentlichkeit. In welchem Verfahren die Prüfung, ob ein Projekt UVP-pflichtig ist, zu erfolgen hat, wird vom EuGH nicht vorgegeben. Er führt ja aus, dass die UVP-Feststellungsentscheidung im Rahmen eines gegen sie oder gegen einen späteren Genehmigungsbescheid eingelegten Rechtsbehelfs anfechtbar sein muss.

Jedenfalls kann also nun der Nachbar im materienrechtlichen Genehmigungsverfahren einwenden, dass zu Unrecht keine UVP durchgeführt worden sei. Die Genehmigungsbehörde darf ihm nicht bloß den rechtskräftigen UVP-Feststellungsbescheid entgegenhalten und auf dessen Bindungswirkung (im Sinne der früheren Judikatur des VwGH) verweisen. Sie muss sich mit den gegen diesen Bescheid vorgebrachten Gründen auseinander setzen und - unter gerichtlicher Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte und den VwGH - quasi als Vorfrage für ihre Zuständigkeit entscheiden, ob sie dem Ergebnis des UVP-Feststellungs- oder Einzelfallprüfungsverfahrens folgt. Dabei kann sie durchaus die Gutachten und sonstigen Verfahrensunterlagen des Feststellungsverfahrens heranziehen, hätte dem Nachbarn aber Gelegenheit zur Stellungnahme dazu zu geben (vgl zur Zulässigkeit der Heranziehung und Verwertung von in einem anderen Verfahren aufgenommenen Beweisen: VwGH 27.8.2014, Ro 2014/05/0057 mwN).
 
Für jene Verfahren, in denen der Nachbar die UVP-Pflicht des Projektes trotz Vorliegen eines negativen Feststellungsbescheides eingewendet hat, würde dies daher bedeuten, dass die Genehmigungsbehörde den Nachbarn auffordert, sich zum Feststellungsbescheid und den diesem zugrunde liegenden Beweisen zu äußern, und dann darüber - nötigenfalls nach Ergänzung der schon vorliegenden Gutachten - entscheidet, ob sie dem Ergebnis des UVP-Feststellungsverfahrens folgt. 

Ist das verwaltungsbehördliche Genehmigungsverfahren schon abgeschlossen und gegen die Genehmigung eine Beschwerde bzw Revision bereits beim Verwaltungsgericht oder VwGH anhängig, könnte diese Äußerungsmöglichkeit und die Überprüfung der UVP-Feststellung auch noch dort nachgeholt werden. Da Art 47 GRC ohnehin einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht verlangt, spricht nichts dagegen, dass die Überprüfung (erst) durch das Gericht - und nicht schon zuvor bei der Verwaltungsbehörde - erfolgt. Gegen deren Entscheidung müsste ja ohnehin wieder ein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stehen!
 
Insgesamt wäre das wohl eine praktikable Lösung für die österreichischen Verfahren, solange es noch keine Neuregelung durch den Gesetzgeber gibt.

Dieser wird aber wohl nun eher den Nachbarn jene Beschwerdemöglichkeit gegen den UVP-Feststellungsbescheid an das BVwG einräumen, die die Umweltorganisationen schon haben. Womit gegen die Bindungswirkung von UVP-Feststellungsbescheiden dann nichts mehr eingewendet werden könnte, der Weg zur Anlagengenehmigung sich aber weiter verzögern kann.

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